19
Langsam schritt Treves die Treppe hinab. Seine Miene drückte Unsicherheit aus.
Er fand die ganze Gesellschaft im Wohnzimmer versammelt. Mary schlug sogleich eine Bridge-Partie vor, doch Treves lehnte mit der Entschuldigung ab, dass er schon bald aufbrechen müsse.
«Mein Hotel ist sehr altmodisch», erklärte er. «Dort erwartet man, dass die Gäste vor Mitternacht heimkehren.»
«Bis dahin ist noch viel Zeit – erst halb elf», sagte Nevile. «Man wird Sie hoffentlich nicht aussperren?»
«O nein. Ich bezweifle sogar, dass die Eingangstür in der Nacht abgeschlossen wird. Um neun Uhr wird sie zugemacht, aber man braucht bloß auf die Klinke zu drücken und kann hinein.»
«Tagsüber macht hier niemand die Tür zu», bestätigte Mary. «Auch bei uns steht sie den ganzen Tag weit offen – aber am Abend schließen wir zu.»
«Wie lebt es sich eigentlich im Balmoral?», erkundigte sich Ted Latimer.
«Recht angenehm», gab Treves Auskunft. «Gute Betten, gute Küche, geräumige Schränke und riesige Badezimmer. Allerdings hatte ich Pech. Vorsorglicherweise hatte ich mir zwei Zimmer im Erdgeschoss reservieren lassen, weil ich herzleidend bin und keine Treppen steigen darf. Doch als ich ankam, waren die Zimmer infolge eines Krankheitsfalles nicht frei, und ich musste im obersten Stock einziehen. Na, glücklicherweise ist ein Lift da, sodass es im Grunde keine Rolle spielt, ob ich unten oder oben wohne.»
Kay rief: «Ted, warum ziehst du nicht auch ins Balmoral? Dann hättest du es nicht so weit von hier.»
«Ach, das Hotel scheint nicht ganz mein Fall zu sein.»
«Da haben Sie Recht, Mr Latimer», nickte Treves. «Es liegt gar nicht auf Ihrer Linie.»
Aus irgendeinem Grund errötete Ted.
«Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.»
Mary, die eine Spannung witterte, beeilte sich, eine Bemerkung über eine Zeitungssensation des Tages zu machen:
«Wisst ihr eigentlich, dass man im Mordfall von Kentish einen Mann verhaftet hat?»
«Das ist nun schon der zweite», fiel Nevile ein. «Hoffentlich ist es diesmal der Mörder.»
«Man wird ihn trotzdem nicht verurteilen können», sagte Treves.
«Ungenügendes Beweismaterial?»
«Ja.»
«Ich glaube, dass sich zum Schluss doch immer ausreichend Beweise finden», äußerte sich Kay.
«Nicht immer, Mrs Strange. Sie würden erstaunt sein, wenn Sie wüssten, wie viele Menschen, die ein Verbrechen verübt haben, frei herumlaufen.»
«Weil sie nicht überführt werden konnten, meinen Sie?»
«Nicht nur das. Es gab vor zwei Jahren einen berühmten Fall, wo die Polizei genau wusste, wer mehrere Kinder ermordet hatte. Und trotzdem war sie machtlos. Zwei Leute gaben dem Mann ein Alibi. Das Alibi war falsch, aber man konnte es nicht beweisen. Folglich kam der Mörder ungestraft davon.»
«Wie schrecklich!», murmelte Mary.
Thomas klopfte seine Pfeife aus und sagte in ruhigem, nachdenklichem Ton: «Das bestärkt mich in meiner Ansicht – dass es sich mitunter rechtfertigen lässt, wenn man das Urteil selber vollstreckt.»
«Wie meinen Sie das, Mr Royde?»
Thomas begann seine Pfeife frisch zu stopfen.
«Angenommen, Sie wissen von einer schmutzigen Tat… wissen, dass der Mann, der sie begangen hat, nach den bestehenden Gesetzen nicht zu bestrafen ist… dass er frei ausgehen wird. Dann ist man meiner Meinung nach berechtigt, das Urteil selber zu vollstrecken.»
Treves sagte erregt: «Ein sehr gefährlicher Standpunkt, Mr Royde! Ein solches Vorgehen wäre ganz und gar ungesetzlich!»
«Das sehe ich nicht so. Es handelt sich ja darum, dass die Tatsachen klar sind – das Gesetz ist nur machtlos!»
«Trotzdem wäre ein privates Eingreifen unentschuldbar.»
Thomas lächelte – ein sehr mildes Lächeln.
«Ich bin nicht überzeugt», erklärte er. «Wenn einem Mann der Hals umgedreht werden sollte, so würde ich die Verantwortung schon übernehmen, das zu besorgen!»
«Und damit würden Sie sich selber strafbar machen!»
Noch immer lächelnd gab Thomas zurück: «Ich müsste natürlich sehr vorsichtig vorgehen…»
Audrey fiel mit ihrer hellen Stimme ein: «Du würdest erwischt werden, Thomas.»
«Das bezweifle ich», entgegnete Thomas.
«Ich kenne einen Fall…», begann Treves, doch dann brach er ab. Entschuldigend setzte er hinzu: «Kriminologie ist mein Steckenpferd, müssen Sie wissen.»
«Oh, bitte erzählen Sie», flehte Kay.
«Ich habe eine ziemliche Erfahrung mit Kriminalfällen», sagte Treves, «aber nur einige sind wirklich interessant. Die meisten Mörder gehen sehr kurzsichtig vor und sind deshalb uninteressant. Immerhin könnte ich Ihnen ein fesselndes Beispiel nennen.»
«Oh, bitte…»
Treves sprach langsam; offenbar wählte er seine Worte mit Bedacht.
«Der Fall betrifft ein Kind. Ich erwähne weder das Alter noch das Geschlecht des Kindes. Es handelt sich dabei um folgende Tatsachen: Zwei Kinder spielen mit Pfeil und Bogen. Das eine Kind traf das andere mit seinem Pfeil und verletzte es tödlich. Es fand eine Untersuchung statt; das überlebende Kind war ganz verstört, der Unglücksfall wurde bedauert, und man hatte Mitleid mit dem unglücklichen Täter.»
Er machte eine Pause.
«Ist das alles?», fragte Ted Latimer.
«Das ist alles. Ein bedauernswerter Unglücksfall. Aber die Geschichte hat noch eine andere Seite. Zufällig war kurze Zeit vorher ein Bauer durch den nahe gelegenen Wald gegangen. Dort hatte er das Kind auf einer Lichtung gesehen, wie es mit Pfeil und Bogen übte.»
Treves machte abermals eine Pause, um die Bedeutung seiner Worte wirken zu lassen.
«Sie meinen», begann Mary ungläubig, «es war gar kein Unglücksfall, sondern Absicht?»
«Ich weiß es nicht», erwiderte Treves. «Ich habe es nie erfahren. Aber bei der Untersuchung wurde festgestellt, dass die Kinder noch nie mit Pfeil und Bogen gespielt hatten und infolgedessen ahnungslos drauflos schossen.»
«Das stimmte also nicht?»
«Das traf bei dem einen Kind auf jeden Fall nicht zu!»
«Was tat denn der Bauer?», erkundigte sich Audrey atemlos.
«Er tat gar nichts. Ob das richtig war oder nicht, vermag ich nicht zu entscheiden. Die Zukunft des Kindes stand auf dem Spiel. Er fand wohl, dass man einem Kind einen Zweifel zubilligen könnte.»
«Aber Sie selber hegen keinen Zweifel am wirklichen Tathergang?», fragte Audrey.
Treves erwiderte ernst: «Persönlich bin ich der Meinung, dass es ein vorsätzlicher Mord war. Ein Mord, den ein Kind bis in jede Einzelheit geplant und durchgeführt hat.»
«Hatte es ein Motiv für die Tat?», forschte Ted.
«O ja. Kindliche Neckereien, unfreundliche Worte – genug, um Hass zu erwecken. Kinder hassen leicht…»
«Aber die genaue Überlegung, die dabei notwendig war!», rief Mary.
«Ja, das war schlimm. Dazu gehörte allerlei. Man stelle sich ein Kind vor, das im geheimen einen Mordplan hegt, alles zur Ausführung vorbereitet, dann die Tat ausführt und schließlich Kummer und Verzweiflung vortäuscht. Das war so unglaublich, dass das Gericht diese Vermutung gar nicht hätte gelten lassen.»
«Was ist aus dem Kind geworden?», fragte Kay neugierig.
«Sein Name wurde geändert, soviel ich weiß. Das schien ratsam, nachdem die Sache derart viel Staub aufgewirbelt hatte. Heute ist das Kind längst erwachsen – irgendwo auf der Erde. Die Frage ist, ob es wohl noch immer das Herz eines Mörders hat?» Nachdenklich fügte Treves hinzu: «Es ist lange her, aber ich würde meinen kleinen Mörder jederzeit wiedererkennen.»
«Das ist doch wohl ausgeschlossen», meinte Thomas.
«O nein. Das Kind hatte ein besonderes körperliches Kennzeichen. Na, wir wollen das Thema lieber fallen lassen. Es ist nicht gerade vergnüglich. Außerdem muss ich mich jetzt auf den Heimweg machen.»
Treves erhob sich.
«Wollen Sie nicht erst noch etwas trinken?», forderte Mary ihn auf.
Die Getränke standen auf dem Tisch am andern Ende des Raumes. Thomas, der sich in der Nähe befand, trat zu dem Tisch und entkorkte die Whiskyflasche.
«Einen Whisky-Soda, Mr Treves? Und Sie, Mr Latimer?»
Nevile sagte mit gedämpfter Stimme zu Audrey: «Der Abend ist so schön. Komm doch ein bisschen mit hinaus.»
Sie hatte beim Fenster gestanden und auf die mondbeschienene Terrasse hinausgeblickt.
Er ging an ihr vorbei und wartete draußen.
Sie schüttelte rasch den Kopf und wandte sich ins Zimmer zurück.
«Nein, ich bin müde. Ich… ich will lieber zu Bett gehen.»
Sie durchquerte den Raum und verließ das Zimmer.
Kay gähnte unverhohlen.
«Ich bin auch müde. Wie steht’s mit Ihnen, Mary?»
«Ich gehe ebenfalls schlafen. Gute Nacht, Mr Treves. Begleite Mr Treves, Thomas, ja?»
Die beiden Frauen gingen hinaus.
Ted Latimer sagte liebenswürdig zu Treves: «Ich habe denselben Weg wie Sie, Mr Treves. Ich muss zur Fähre und komme an Ihrem Hotel vorbei.»
«Besten Dank, Mr Latimer. Es freut mich, wenn Sie mich begleiten.»
Obwohl Treves die Absicht geäußert hatte, heimgehen zu wollen, schien er nun keine Eile mehr zu haben. Er nippte genießerisch seinen Whisky und ließ sich von Thomas über das Leben in Indonesien berichten.
Thomas zeigte sich wieder einmal einsilbig. Offenbar weilten seine Gedanken ganz woanders, und es schien ihm Mühe zu bereiten, die Fragen des alten Herrn zu beantworten.
Ted Latimer wartete ungeduldig auf den Aufbruch.
Unvermittelt warf er ins Gespräch: «Ach, das hätte ich fast vergessen! Ich habe Kay ein paar Grammofonplatten mitgebracht, die sie haben wollte. Sie sind in der Halle. Ich hole sie. Würden Sie ihr morgen Bescheid sagen, Mr Royde?»
Thomas nickte.
Ted verließ das Zimmer.
«Der junge Mann hat eine unruhige Natur», bemerkte Treves.
Thomas knurrte irgendetwas Unverständliches.
Treves setzte das ziemlich einseitig geführte Gespräch eine Weile fort, bis Nevile von der Terrasse zurückkehrte.
Im gleichen Augenblick kam Ted von der Halle herein.
«Nanu, Ted, was schleppst du denn da?», fragte Nevile.
«Grammofonplatten für Kay. Sie bat mich, sie mitzubringen.»
«Ach? Davon hat sie mir gar nichts gesagt.»
Nur einen Augenblick war eine Spannung zwischen den beiden zu spüren; dann ging Nevile zu dem Tisch mit den Getränken hinüber und schenkte sich ein Glas Whisky-Soda ein. Er sah erregt und unglücklich aus und atmete heftig.
Seit Neviles Erscheinen schien Thomas das Gefühl zu haben, seiner Pflichten als Gastgeber enthoben zu sein. Er verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden – offenbar hatte er das völlig vergessen –; sein Gang war etwas rascher als gewöhnlich.
«Ein wunderbarer Abend», bemerkte Treves höflich. «Jetzt muss ich aber wirklich gehen.»
«Kommen Sie bald wieder und besuchen Sie Lady Tressilian», sagte Nevile, während er die beiden Herren in die Halle hinausbegleitete. «Sie wirken ungeheuer anregend auf meine Tante. Sie hat jetzt so wenig Kontakt zur Außenwelt. Sie ist wundervoll, nicht wahr?»
«Ja, wirklich. Ein prächtiger Mensch.»
Treves hüllte sich sorgsam in Schal und Mantel, und nachdem er sich von Nevile verabschiedet hatte, ging er mit Ted zusammen hinaus.
Das Hotel Balmoral lag kaum mehr als hundert Meter entfernt, man brauchte nur um die nächste Ecke zu biegen. Zur Fähre, zu der Ted musste, hatte man noch weitere zwei- bis dreihundert Meter zu gehen; die Anlegestelle befand sich an der schmälsten Stelle des Flusses.
Treves blieb vor dem Hotel stehen und streckte seine Hand aus.
«Gute Nacht, Mr Latimer. Bleiben Sie eigentlich noch länger hier?»
Ted lächelte, dass seine weißen Zähne blitzten.
«Das hängt ganz davon ab, Mr Treves. Bis jetzt habe ich mich noch nicht gelangweilt.»
Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Die Straße war sehr dunkel. Aus der Finsternis löste sich die Gestalt eines Mannes, der den Hang heraufkam. Es war Thomas Royde.
«Bin gerade ein bisschen zur Fähre spaziert», murmelte er undeutlich, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen. «Ist das Ihr Hotel?», fragte er Treves. «Sieht ganz so aus, als ob man Sie ausgesperrt hätte.»
«Oh, das glaube ich nicht», entgegnete Treves.
Er drückte auf die mächtige Metallklinke, und die Tür öffnete sich.
«Wir bringen Sie noch hinein», sagte Thomas.
Alle drei betraten die Halle, die nur von einer einzigen Lampe matt erhellt wurde. Niemand war zu sehen.
Plötzlich stieß Treves einen empörten Ausruf aus.
Am Lift hing ein Schild, auf dem stand:
AUSSER BETRIEB
«Meine Güte!», ärgerte sich Treves. «Wie unangenehm! Nun muss ich alle die Stufen hinaufsteigen.»
«Zu dumm!», meinte auch Thomas. «Gibt es keinen Gepäckaufzug?»
«Leider nicht. Dieser Lift hier dient allen Zwecken. Na, ich muss eben langsam klettern. Gute Nacht.»
Er bewegte sich auf die breite Treppe zu.
Thomas und Ted begaben sich auf die dunkle Straße hinaus.
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Schließlich sagte Thomas unvermittelt: «Also gute Nacht.»
«Gute Nacht. Wir sehen uns ja morgen wieder.»
Ted lief leichtfüßig zur Fähre hinunter. Thomas schritt langsam in der entgegengesetzten Richtung davon.